
Ein Bericht von Heinz Wraneschitz
Erkennen, verstehen, einordnen; fundierte Grundlagen legen, um gegen Scheindebatten zu Mobilität, Atomkraft und Klimagesetzgebung allgemein anzuschreiben: Das wollte das Netzwerk Klimajournalismus Deutschland e.V. mit der ersten einer geplanten Reihe von Wahlkampf-begleitenden Online-Veranstaltungen. DGS-News-Redakteur Heinz Wraneschitz war dabei.
Die Scheindebatten-Erfinder
„Atomkraft schafft Wohlstand.“ So plakatiert zurzeit eine Partei, deren Verbot eine überparteiliche Gruppe von 113 Abgeordneten per Antrag fordert; der Bundestag debattiert und stimmt kommende Woche erstmals darüber ab. Eine von vielen eindeutigen Scheindebatten, welche diese Partei seit ihrer Gründung im Jahr 2013 angezettelt hat. Und auf die immer wieder andere – sogar demokratische – Parteien draufgesprungen sind.
Diesmal müsste man sich fragen: Für wen genau könnte Atomkraft Wohlstand schaffen? Denn hierzulande haben nicht einmal die ohnehin ziemlich saturierten Ex-Betreiber von Atomkraftwerken mehr Lust auf die nicht versicherbare, gefährliche Technik der Atomspaltung zur Stromproduktion. Trotzdem springen Wahlkämpfer von CDU, CSU und andere selbst auf diese Scheindebatte auf. Zudem befeuert die Internationale Energieagentur IEA diese Scheindebatte, indem sie von einer „weltweiten Renaissance der Kernenergie“ spricht. Da kann selbst der nicht gerade atomfeindliche Ingenieurverein VDI nicht mehr ruhig bleiben. Aber ob dessen jüngste, fundierte, mit Zahlen belegte Analyse der Scheindebatte zur Atomkraft ein Ende bereiten kann, scheint mehr als fraglich. Denn die hat sich fast explosionsartig ausgebreitet, vor allem in den so genannten sozialen Medien.
Doch was kann seriöser Journalismus gegen solche Scheindebatten tun? Dafür lieferten in besagter Klimajournalismus-Veranstaltung drei Wissenschaftler:innen jede Menge Argumentatationshilfen.
Wo stehen wir klimapolitisch in Deutschland?
Dazu referierte Brigitte Knopf, Stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen (oft als „Klimarat“ bezeichnet) und Direktorin der so genannten „Denkfabrik“ Zukunft KlimaSozial. Sie hob unter anderem hervor, „die soziale Dimension hat noch zu wenig Beachtung gefunden“. Zudem „werden die Chancen der Transformation zu wenig betont“. Dazu passte ihre Aussage, „die Bilanz der Ampel ist besser als ihr Ruf“ – dass also die aktuelle Regierung ihre klimapolitischen Hausaufgaben zwar recht gut erfüllt habe, dies aber nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung gedrungen sei.
Sie stellte jedoch auch klar: Eine künftige Regierung könne zwar alle möglichen Gesetze „ändern oder umschreiben“. Die von Ampel und Vorgänger GroKo gesetzten Emissionsziele seien durch Vorgaben der EU notwendig, ob nun für Autos oder Gebäude. „Und bei Förderprogrammen wie für Wärmeplanung oder Heizungen geht es um die Mitte der Gesellschaft“, so Knopf. Heißt: Die Union beispielsweise werde entgegen ihrer Vorwahl-Ankündigungen kaum Inhaltliches an Vorhaben der Ampel ändern können, ja nicht einmal wollen, um die eigene Klientel nicht zu verprellen.
Wie stehts um E-Fuels und ein Aus für Verbrenner-Autos?
Dazu informierte Falko Ueckerdt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung PIK. Er nannte das Wort „Verbrennerverbot hochgradig irreführend. Nein, ein solches gibt es nicht, sondern einen CO2-Ausstoß Null für neue Autos ab 2035“, und das auf EU-Ebene.
Bei der gerade von der Ex-Ampel-Partei FDP fast gebetsmühlenartig vorgetragenen „Technologieoffenheit für E-Fuels“ gehe es beileibe nicht wie von ihr behauptet um Klimaschutz, sondern wohl hauptsächlich darum, „die Architektur abzuschaffen“, also den Erfolg von Elektroautos auszubremsen, so Ueckerdts Meinung. Und nicht nur der Autoindustrie habe die Ampel mit der Aufweichung der EU-Vorgaben einen Bärendienst erwiesen: „Technologieklarkeit schafft Planungssicherheit für Klimaschutz, Verbraucher:innen und Industrie. Es macht keinen Sinn, der Autoindustrie kurzfristig helfen zu wollen. Und wer die Flottengrenzwerte angreift, greift den Klimaschutz insgesamt an. Zudem brauchen E-Fuels fünfmal so viel Energie wie ein E-Auto“ – eine Tatsache, die auch in den DGS-News immer wieder publiziert wird.
Nicht zuletzt, so der PIK-Mann, werde „der E-Fuel-Markthochlauf durch hohe Kosten und fehlende Investitionssicherheit gehemmt“; die Fakten seiner 2023 veröffentlichten Projektion seien weiterhin gültig. Zumal selbst die IEA in ihrem aktuellen Flagship-Klimaschutzszenario vorhersage: 2050 werde es keine E-Fuels geben, sondern fast vollständig elektrische Mobilität. Die steige weltweit ohnehin „exponentiell, nur in Deutschland ist sie aktuell leicht rückläufig“; der Trend lasse sich also auch durch solche Scheindebatten nicht aufhalten.
„Die echte technologieoffene Alternative für Klimaschutz wäre: hohe CO2 Bepreisung im Verkehr“, so Ueckerdt wörtlich. Was bedeuten würde: „Damit E-Fuels Kostenparität mit Benzin oder Diesel erreicht, bräuchten wir in den nächsten Jahren einen CO2 Preis um die 1.000 Euro je Tonne.“ Denn momentan produziere eines der größten E-Fuel-Demoprojekte in Chile pro Tag gerade mal 350 Liter davon – zu einem Literpreis von 50 Euro. Und noch ein Fakt vom PIK-Forscher: „Falls alle bis 2035 weltweit angekündigten E-Fuel Projekte gebaut werden, könnten nur etwa 10 Prozent des deutschen Bedarfs in No-Regret-Anwendungen gedeckt werden“ (Stand 2023).
Auch eine Scheindebatte: Atomkraft
Die immer wieder angeführte Atomkraft-Renaissance ist eine Schimäre, wie Christoph Pistner vom Öko-Institut mit Zahlen belegte: Seit der Spitze im Jahr 2002 – 438 AKW weltweit – ist deren Zahl sogar auf 408 (Stand Juli 2024) gesunken. Deren Stromproduktion blieb zwar etwa gleich, doch der Anteil an der weltweiten Stromerzeugung sank von einst 17 auf heute unter 10 Prozent. Zum Gesamtenergieverbrauch auf der Erde trug Kernkraft gerade mal 4,7 Prozent bei, so der Stellvertretende Vorsitzende der Reaktorsicherheitskommission der Bundesregierung.
Warum zurzeit von weltweit 60 im Bau befindlichen neuen Reaktoren – viele sind Ersatz für Uralt-Meiler; das Durchschnittsalter der AKW-Blöcke beträgt 32 Jahre –, die meisten aus russischer oder chinesischer Produktion stammen, erklärte Pistner so: „Damit sollen strategische Abhängigkeiten geschaffen werden.“ Ohnehin gebe es überall auf den Atom-Baustellen „massive Kostenüberschreitungen. Hinkley Point C in England wird gerade für 16.000 Euro pro installiertes Kilowatt Leistung errichtet“, einem im Vergleich zu Erneuerbaren Energien zehnfachen Wert. Ein AKW-Bau dauere aktuell bis zu 38 Jahre, mindestens aber 10 Jahre, die Vorbereitung noch nicht eingerechnet. Kein Wunder also, dass 2023 weltweit etwa 600 Mrd. US-Dollar in Erneuerbare Energien, aber nur gut 20 Mrd. in Atomkraft investiert wurden.
Und was ist mit den angekündigten „Neuen Reaktorkonzepten“ oder „SMR“? „Es wird zwar viel davon geredet, aber weltweit sind nur wenige Schnelle Brüter und nur drei SMR im Bau“, so der Öko-Instituts-Mitarbeiter. Pistners Team hatte im Auftrag des BASE – Bundesamt für die Sicherheit der Nuklearen Entsorgung – 2021 eine „Analyse zu den über 70 SMR-Systemen erstellt, welche seit Jahrzehnten entwickelt werden. Wassergekühlte SMR werden teurer sein als große dieser Technik. Und auch von nicht wassergekühlten SMR ist bis 2050 kein signifikanter Beitrag zur Stromerzeugung weltweit zu erwarten.“
Pistners Fazit: „Nur wenn die Staaten Strompreise garantieren, können sich AKW rentieren. Dann aber zu hohen Kosten“, die letztlich die Verbraucher bezahlen müssten. Von der Nicht-Versicherbarkeit, den weltweit noch nicht existierenden Endlagern und der unsicheren Brennstoffsituation ganz zu schweigen. Warum ausgerechnet jetzt der verstaatlichte Energiekonzern Uniper Geld in ein SMR-Projekt steckt, lässt sich in diesem Zusammenhang wohl nur so erklären, dass die Verantwortlichen mit (unendlich viel?) Bundesgeld ohne eigenes Risiko kalkulieren.
Für die Transformation fehlt das Geld
Keine Scheindebatte ist nicht nur nach Einschätzung aller drei Referierenden dagegen: Für eine echte Transformation in eine CO2-emissionsfreie Welt braucht es massiv mehr Finanzmittel. Der Journalist Nathan Niedermeier, Mitarbeiter der ZDF-Frontal-Redaktion und Moderator der Klimajournalismus-Online-Veranstaltung, nannte die bisher von der Politik geplante „Finanzierung der Transformation über den CO2-Preis nicht ausreichend“. Und er forderte die Medien auf, „in der Berichterstattung immer an die Verbindungen zum Klimaschutzprogramm und an die EU“ zu denken. Denn die ESR, die Europäische Lastenverteil-Regelung, sehe nationale Verpflichtungen vor, ob für Gebäude oder Landwirtschaft. Und für die aktuell bestehende deutsche Emissionslücke von 130 Megatonnen CO2 könnten bald Strafzahlungen folgen. „Es gibt aber keine Emissionswerte, die wir aus dem Ausland kaufen können“, denn Klimaschutz sei in der EU insgesamt nicht ausreichend, so Niedermeier.