
Eine persönliche Einschätzung von Heinz Wraneschitz
„Es bleibt also spannend. Nicht nur bei der Juraleitung, sondern beim gesamten Übertragungsnetzausbau.“ Mit diesen zwei Sätzen endete vor genau zwei Jahren der Beitrag „Höchstspannungstrassen: Ein Thema – zwei Sichtweisen“ in den DGS-News. Doch nach dem Artikel, den Sie hier gerade lesen, dürfte die Spannung beim Ausbau des deutschen Strom-Übertragungsnetzes sicher noch Jahrzehnte erhalten bleiben. Denn die Bocksprünge, die Bundes- und Länder-Politiker:innen, Bundesnetzagentur (BNetzA) und Deutschlands Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) in der Vergangenheit vollführt haben, sind bis heute oft hanebüchen und mit Logik nicht zu erklären. Und sie werden sicher weiterhin bockspringen.
Fakt ist: Das deutsche Höchstspannungsnetz soll ausgebaut werden. Ob das in der geplanten Größenordnung nötig ist, zweifelt sogar der Elektrotechnik-Verband VDE in der vor einem Jahrzehnt gestarteten Studienreihe „Zellularer Ansatz“ an: Mit dezentraler Stromerzeugung, -Speicherung sowie Sektorkopplung ließe sich viel Geld und Trassen sparen. Doch die VDE-Fachleute wurden und werden weder von verantwortlichen Energiepolitiker:innen noch von der BNetzA ernstgenommen; die vertrauen lieber auf die Aussagen der ÜNB wie: „Mehr Kupferplatte, mehr Strom von Nord nach Süd, mehr Freude bei der Wirtschaft.“ Aber sind es nicht vor allem die vier ÜNB – alles finanzorientierte Konzerne – die von mehr neuen Leitungen profitieren? Denn die Garantierenditen für Bestandsanlagen sinken immer weiter. Für neue Leitungen gibt’s mehr Rendite.
Massive Teuerung
Die Kosten dafür schießen derweil durch die Decke: Von mittelfristig bis zu 500 Milliarden Euro Finanzbedarf geht inzwischen das Habeck’sche Bundesenergieministerium aus – „bislang hatte die Bundesnetzagentur für das Übertragungsnetz, das die großen Stromtrassen und -leitungen umfasst, Investitionen in Höhe von 209 Milliarden Euro bis zum Jahr 2037 prognostiziert“, schreibt Focus.
Solche Zahlen lösen Bocksprünge aus, beispielsweise bei der bayerischen Landespolitik. So nannte der Freiwähler Hubert Hubsi Aiwanger im Herbst 2016 allgemein „Stromtrassen überflüssig und schädlich“ und forderte: „Größenwahnsinnige Lobbyprojekte verhindern!“ Im Mai 2022 beklagte er dagegen öffentlich: „Die Ablehnung der Erdverkabelung des Ostbayernrings ist bedauerlich – jetzt müssen Bayerns Ampel-Abgeordnete kämpfen.“ Und im Frühjahr 2024 verkündete er erfreut das genaue Gegenteil von 2016: „Überraschung: Weitere Mega-Stromtrasse kommt.“ Doch die soll womöglich – wohl um ein paar der mehrhundert Ausbau-Milliarden zu sparen – nicht unter, sondern über der Erde verlaufen. Da war nach einem Medienbericht „sogar der Bad Kissinger Landrat sprachlos“, durch dessen Landkreis die Trasse verlaufen soll.
Nur zur Erinnerung: Zumindest für Hochspannungs-Gleichstromleitungen (HGÜ) gilt seit 2016 ein „gesetzlicher Vorrang für Erdverkabelung“. Doch neben jenen HGÜ- und 380-kV-Drehstromleitungen gehört zum Höchstspannungsnetz auch die Spannungsebene 220.000 Volt (220 kV). Auf der 220-kV-Ebene betreibt ÜNB Tennet bislang auch die eingangs erwähnte „Juraleitung“. Doch zwischen Raitersaich in Mittelfranken und Altheim in Niederbayern will Tennet die in den 1940er Jahren errichtete Leitung auf eine neue Trasse verlegen und den Strom per 380-kV-Spannung übertragen. In den DGS-News war die Juraleitung auch schon Thema, zum Beispiel wegen der vom ÜNB Tennet durchgezogenen „Öffentlichkeitsbeteiligung nach Gusto“.
Für die Leitung selbst wurde das Raumordnungsverfahren (ROV) durch die Regierungen von Mittelfranken, Oberpfalz und Niederbayern längst abgeschlossen. Anders bei den Umspannwerken (UW) auf der Strecke: Die waren nämlich nicht Teil des ROV, sondern dafür führen den Bezirksregierungen Genehmigungsverfahren jeweils einzeln durch. Besonders umstritten ist das UW Ludersheim: Bis heute ist nicht wirklich klar, wo der Neubau hin soll. Deshalb sind Trassengegner-Gruppierungen rund um den Ort Altdorf im Nürnberger Land immer wieder öffentlich aktiv, um ihre Sicht aufzuzeigen: „Die neue Juraleitung ist völlig überflüssig“ – und damit auch die neuen UW.
Renitente Bauern und Trassengegner Seit` an Seit`
Aktuell haben das „Aktionsbündnis Trassengegner“ (ABT) auch eine Reihe von Landwirten an seiner Seite. Nicht alle Bauern entlang der neuen Trasse wollen nämlich der im Juni 2024 zwischen ÜNB Tennet und Bayerischem Bauernverband BBV geschlossenen „Rahmenvereinbarung über Entschädigungswerte und Rahmenbedingungen für das Projekt“ zustimmen. Und das trotz laut BBV „erzielten Ergebnisse, die zum Teil erheblich über gutachterlich festgestellte Werte hinausgehen“: Diese Informationen stammen aus einem Schreiben des BBV an Orts- und Kreisbauern, das der Redaktion vorliegt. Ein Bocksprung des BBV. Denn noch vor zwei Jahren hieß es von der Bauernvertretung zur Juraleitung insgesamt: „Die Beteiligten sind sich einig, dass das geplante Vorhaben abzulehnen ist.“
Aber einigen renitenten Landwirten ist wohl ein Dorn im Auge, dass überhöhte Entschädigungszahlungen für Mastflächen oder Leitungen über ihren Feldern die Strom-Durchleitungsgebühren insgesamt noch mehr in die Höhe treiben würden als ohnehin schon zu erwarten ist. Und deshalb haben sie gemeinsam mit den ABT für den heutigen Freitag, 12. Juli eine Bulldog-Demo ab dem Feuerwehrhaus Ludersheim geplant; Motto: „Juraleitung und Umspannwerk verhindern!“
Raitersaich ist anders
Am nordwestlichsten Punkt der Juraleitung, rund um Raitersaich im Landkreis Fürth, haben die dortigen Initiativen aus den Landkreisen Ansbach und Fürth kürzlich einen kleinen Erfolg feiern können: Der Wirtschaftsausschuss im Bayerischen Landtag forderte am 4. Juli einstimmig „die Prüfung der Waldüberspannung bei Raitersaich“. Mit der Petition, die dafür zugrunde lag, wollen sie die Waldrodung für die Zuleitungen zum neu geplanten, um einige 100 Meter nach Westen verlagerten Umspannwerk im Roßtaler Ortsteil verhindern.
Das Umspannwerk Raitersaich (UW) ist eines der größten in Süddeutschland. Hier treffen sich mehrere Höchstspannungs-Drehstromleitungen aus verschiedenen Himmelsrichtungen. Von dort soll die neue „Juraleitung“ in Richtung Ludersheim bei Altdorf andocken. Aber anders al dort ist rund um Raitersaich die Bürgerschaft aber grundsätzlich für das neue UW, weil es weiter vom Ort weg wäre. Doch wegen der künftig anderen Führung der Zuleitungen soll laut Tennet etwa 30 Hektar gerade mal 40 Jahre alter Zukunftswald gerodet werden: Das geht vielen gegen den Strich – nicht nur den Waldbesitzenden selbst. Nun also der Erfolg für die bereits zweite Waldüberspannungs-Petition; die erste wurde Ende 2023 noch von den Bayerischen Landtags-Regierungsfraktionen abgeschmettert.
Raymund Filmer, Ex-Förster aus Großhabersdorf und in den Bürgerinitiativen in den Landkreisen Fürth und Ansbach aktiv, gibt am Telefon zu: „Wir waren sehr überrascht über die Einstimmigkeit im Landtag.“ Doch nun setzt er darauf, dass der ÜNB Tennet „die Überspannung umsetzt, soweit es technisch möglich ist“. Er stellt aber klar: „Für die BIs vor Ort kommt eine Rodung grundsätzlich nicht in Frage.“
Doch wie wird sich Tennet bei den anstehenden Planungsverfahren für das zu verschiebende UW verhalten? Von ÜNB-Seite heißt es auf unsere Nachfrage zum einstimmigen Landtagsausschuss-Beschluss: „Tennet ist dieser Sachverhalt bekannt. Aktuell befinden wir uns noch in der technischen Prüfung und werden in diesem Zusammenhang auch die Option einer Waldüberspannung betrachten.“
Positiver Bocksprung bei Tennet?
Das hatte letztes Jahr noch ganz anders geklungen. Bei einem „Infomarkt“ in Großhabersdorf am 9. November 2023 hatte Ino Kohlmann, der für die Bürgerbeteiligung für die Juraleitung zuständige Tennet-Referent erklärt: „Wir sagen Nein zur Überspannung. Dann wäre die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben.“
Nun also vor dem formellen Planfeststellungsverfahren zumindest ein halber Bocksprung vom ÜNB. Der schiebt jedoch die endgültige Verantwortung an die Regierung von Mittelfranken: „Die Genehmigungsbehörde beurteilt auf dieser Grundlage abschließend den Leitungsverlauf.“ Das SPD-Landtagsmitglied Harry Scheuenstuhl sagt dagegen klipp und klar: „Tennet bräuchte im Antrag auf Planfeststellung nur sagen, wir wollen überspannen. Dann würde die Bezirksregierung zustimmen.“
Von deren Seite dagegen heißt es auf Nachfrage: „Wir werden als Planfeststellungsbehörde jede Einwendung, auch solche die sich auf Waldüberspannungen beziehen, im Verfahren prüfen und unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles die vorzugswürdige Trassierung festlegen.“ Bayerns Wirtschafts- und Energieministerium hat dafür in seiner Stellungnahme zur aktuellen Petition vom Mai 2024 den Rahmen gesetzt: Neben dem Schutzstatus für den betroffenen Wald habe die Bezirksregierung „im Rahmen des Verfahrens auch noch weitere Schutzgüter zu berücksichtigen, etwa das Schutzgut Mensch oder das Schutzgut Tier.“ Es bleibt also weiter spannend.