Thematische Einordnung

Ein Bericht von Heinz Wraneschitz
Muss man sagen: Endlich? Jedenfalls hat Anfang der Woche das in Kassel ansässige Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik, kurz FhG-IEE verkündet: „Neue Ansätze für die kurative Systemführung sollen höhere Auslastung der Verteilnetze ermöglichen.“ Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich die FhG-IEE-Forschenden bisher offensichtlich vor allem um Strom-Übertragungsnetze gekümmert haben. Gemeinsam unter anderem mit den vier in Deutschland tätigen Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) Amprion, NetzeBW, Tennet und 50Hertz haben sie drei Jahre lang im Projekt InnoSys2030 – ausgeschrieben: »Innovationen in der Systemführung bis 2030« – vor allem untersucht, wie diese ihre 380- und 220-Kilovolt-Netze besser ausnützen können.
Potentiale gebe es unter anderem bei der so genannten „Horizontalen Leistungsflusssteuerung“. Was bedeutet, es wurde dabei beispielsweise herausgefunden: Durch gleichmäßigere Verteilung der Leistungsflüsse im Übertragungsnetz, durch die Nutzung leistungsflusssteuernder Betriebsmittel wie Phasenschieber-Transformatoren (PST), Serienkondensatoren (TCSC) oder Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) verträgt das Netz mehr als ursprünglich errechnet, steht im Abschlussbericht von InnoSys2030 aus dem Jahr 2021.
Doch spätestens bei dessen Vorstellung dürfte den Beteiligten klar geworden sein: Es brauche zusätzlich „eine Überprüfung auf die Auswirkungen bei den Verteilnetzbetreibern (VNB), in deren Netzbereich ein Großteil der volatilen Erzeugungseinheiten im Jahre 2030 angeschlossen sein wird“, wie Denis Mende vom Fraunhofer-IEE wissen lässt.
Drei Jahre Erkenntnis – keine Reaktion beim Bund
Trotz dieser, seit immerhin drei Jahren bekannten Forschungserkenntnis steht bislang nach Beschluss des Bundestags und der Maßgabe der Bundesnetzagentur vor allem der Ausbau der ÜNB im Vordergrund: Mindestens 313 Mrd. Euro Ausbaugeld sieht der aktuelle Netzentwicklungsplan für die Übertragungsnetze vor. Dieser Ausbau wiederum ist ein wichtiger Grund, warum „das durchschnittliche Netzentgelt für die Höchst- und Umspannungsebene 6,65 Cent pro Kilowattstunde im Jahr 2025 betragen soll. Das sind drei Prozent mehr als in diesem Jahr. Die neuen Zahlen zu den Übertragungsnetzentgelten bestätigen die Befürchtungen der deutschen Wirtschaft“. Das schreibt aktuell Redakteurin Ariane Mohl im Stadtwerke-Fachportal zfk.de.
Für die Verteilnetze sind dagegen bis 2032 gerade mal 42 Mrd. Euro eingeplant. Und so sind vielerorts die Einspeisemöglichkeiten ins 20-kV-Mittelspannungsnetz so stark überlastet, dass zahlreiche Planer von PV- oder Windkraftwerken eigene Umspannwerke bauen, um direkt auf die obere Verteilnetzebene mit 110 kV einspeisen zu können.
Dass man die unteren Verteilnetzebenen – ob die am Hausanschluss verlegten 400-Volt- oder die zur Ortsversorgung üblichen 10- oder 20-kV-Kabel und Leitungen – besser ausnutzen kann als bislang üblich, das ist nicht neu und wurde auch schon anderswo eindeutig nachgewiesen. Beispielsweise berichteten die DGS-News vor zwei Jahren über dieses erfolgreiche Projekt im Stadtwerkegebiet der infra Fürth.
Breites Bündnis von Projektbeteiligten
Doch der neue Fraunhofer-IEE-Ansatz namens kurSyV ist wesentlich breiter aufgestellt. Es gehe darum, „praktikable Konzepte sowohl für das Netz als auch für die beteiligten Anlagen zu erarbeiten“, so FhG-IEE-Mann Mende. Außerdem sollen bis 2027 „Anreizsysteme entwickelt werden, die es Betreibern von erneuerbaren Energieanlagen (EEA) ermöglichen, ihre Flexibilität in den Dienst der kurativen Systemführung zu stellen“, und zwar „konkrete Musterlösungen mit den notwendigen Anpassungen, um diese EEA in den 110-kV-Netzbetrieb zu integrieren“. Dabei bleiben auf den ersten Blick zwar die 0,4- und 20-kV-Ebenen unberücksichtigt, in die kleine bis mittlere PV-Anlagen und selbst Windkraftwerke einspeisen müssen – dies aber wegen der vielerorts bereits überlasteten Ortsnetze oft nicht mehr dürfen. Gut, dass überhaupt einmal Partner wie Westnetz, Siemens, LEW Verteilnetz, Amprion und andere gemeinsam mit dem FHG-IEE und der Uni Kassel das Thema angehen.
Dabei gibt es nicht nur echte Netzengpässe, sondern eine Menge überholter gesetzlicher Regelungen, welche Ökostromerzeugung verhindern. So war kürzlich bei einer Veranstaltung des Fachverbands Biogas zum Beispiel zu erfahren: Die Verteilnetzbetreiber müssen die Einspeisepunkte auf die maximal anfallende Gesamtleistung aller Ökostromerzeuger begrenzen, statt die Einspeisung bis zur Leistungsfähigkeit des dort vorhandenen Trafos zuzulassen. An solchen Vorgaben werden auch die FHG-IEE-kurSyV-Forschungen nichts ändern. Dabei sollte jeder normal denkende Mensch begreifen, dass Wind- und PV-Anlagen sich gegenseitig ergänzen, und wissen, dass Biogaskraftwerke heute fast nur noch dann anspringen, wenn Sonne und Wind nicht genügend liefern. Das aber dürfte wohl noch lange nicht bis in die bundesenergieministeriellen Denkfabriken vordringen.
„Energiewende bizarr“ – nicht nur in Bayern
Ganz kurios übrigens wird es, wenn Stadtwerke womöglich bewusst gegen Bundes- und EU-Vorgaben verstoßen und PV-Anlagen für Eigenbedarf bei viel Sonneneinstrahlung abregeln. So dürfe ein Metzgereibetrieb „gerade in den ertragreichsten Mittagsstunden seinen Eigenbedarf nicht mehr durch günstigen Solarstrom decken, sondern muss teureren Netzstrom zukaufen“, wie TAZ-Autor Bernward Janzing kürzlich berichtet hat. Diese – wie es Janzing formuliert – „Energiewende bizarr in Bayern“ und andere Kuriositäten des Verteilnetzbetriebs wird hoffentlich bald der Mantel der Geschichte verhüllen. Auf dem Weg dahin helfen auch solche Forschungsarbeiten wie kurSyV.
PS: Das Wörtchen „kurativ“ kommt übrigens aus dem Lateinischen und bedeutet auf gut deutsch „heilend“. Es soll ja Menschen wie den Autor dieses Beitrags geben, die den von FhG-IEE vielfach verwendeten Begriff noch nie in ihrem Leben gehört haben. Ach ja: Übersetzt man dann „Kurator“ womöglich mit „Heiland“?