
Ein Kommentar von Heinz Wraneschitz
Es war einmal: So fangen alle Märchen an. Und offensichtlich erzählt Markus Söder gerne Märchen, vor allem jenes von der noch lange lebenden, ach so friedlichen Atomenergie. Die werde auch in Deutschland eine Auferstehung erleben: Dieses Märchen hat er dieser Tage gegenüber der Chefredaktion der Nürnberger Verlagshauses erzählt.
Auf die Frage: „Bekommen wir wieder Atomkraft in Bayern?“ hat Bayerns CSU-Chef und Ministerpräsident nämlich geantwortet: „Wir brauchen – wie andere Länder, zum Beispiel Schweden, Kernenergie und Erneuerbare. Das hilft gegen den Klimawandel und nützt der Wirtschaft. Beides zusammen gewährleistet den wachsenden Strommix der Zukunft. … Wo man sich umschaut, ist Kernenergie State of the Art. … Nach der Bundestagswahl müssen wir damit anfangen.“
State of the Art? Offensichtlich hat Herr Söder nicht einmal einen kostenlosen Account des Statistischen Bundesamts (Destatis). Denn wenn auch dort zu lesen ist: „Die Anzahl der sich in Betrieb befindlichen Atomreaktoren nahm weltweit zwar deutlich langsamer zu als noch im vorherigen Jahrhundert“ Tatsächlich aber gab es im Jahre 2004 den höchsten Stand an Atommeilern, nämlich 437, wie die Grafik zeigt. Und seitdem geht’s bergab: Ende 2022 waren gerade noch 411 in Betrieb, also faktisch 26 weniger als 18 Jahre zuvor. Die Zahlen hätte Bayerns Landeschef übrigens auch ganz leicht von der Internationalen Energieagentur IAEA bekommen können. Und – nicht zu vergessen – wurden am 15. April 2023 in Deutschland die letzten drei Meiler abgeschaltet. Dass der Anteil des atomar erzeugten Stroms inzwischen gerade mal noch neun Prozent der weltweiten Stromproduktion ausmacht, sollte ein weiteres Argument dafür sein: Es braucht diese gefährliche Art der Stromgewinnung schlichtweg nicht.
Zu den Kosten neuer Atommeiler – denn die alten sind unwiderruflich stillgelegt – sagt der Märchenerzähler Söder zurzeit lieber nichts. Auf einen Atom-GAU soll hier gar nicht groß eingegangen werden – wie würde sich ein Menschenleben in Geld berechnen? Durch Versicherungen jedenfalls sind die „Kosten“ nicht abgedeckt. Doch wenn schon die errechneten Kosten für ein frühestens in 40 Jahren vorhandenes Atomendlager nicht von den AKW-Betreibern, sondern großteils von uns Bürger:innen aufgebracht werden muss, wie 2014 vereinbart wurde, dann kann etwas nicht stimmen bei der Kalkulation des als „günstig“ angepriesenen Atomstroms. Denn da sind die für die Gesamtgesellschaft anfallenden Kosten nicht enthalten. Denn aus den 24 Mrd. Euro in einen Fonds eingebrachten Rückstellungen für die Endlagerung lässt sich mittelfristig gerade mal die noch unsicherere Zwischenlagerung finanzieren: Weit über 300 Mio. Euro fallen dafür zurzeit jährlich hierzulande an, ist von der dafür zuständigen Bundesgesellschaft BGZ zu hören.
Anderswo, in England oder Frankreich beispielsweise, wird bereits vor Baubeginn den Errichtern neuer Atomkraftwerke (AKW) ein Garantieabnahmepreis zugesichert, der schon heute weit jenseits der Erzeugungskosten von Wind- oder Solarstrom liegt. Wann und wie teuer die AKW dann tatsächlich einmal sein werden, sollten sie einst in Betrieb gehen, weiß ohnehin niemand zu sagen. Gutes – oder besser schlechtes – Beispiel: der Neubau von Olkiluoto 3 in Finnland.
In Tschechien wiederum, dem Nachbarland vom einstigen Königreich Bayern, bekommt der Staatskonzern CEZ jede Menge Staatsgeld für einen Neubau-Reaktor in Dukovany – es sollen etwa sieben Mrd. Euro sein – und „einen Stromliefervertrag mit einem staatlichen Abnehmer, der stabile Einnahmen über einen Zeitraum von 40 Jahren sicherstelle“: Das hat die EU-Kommission im April 2024 genehmigt. Fast zur gleichen Zeit hat CEZ jedoch den ebenfalls einst groß angekündigten Neubau von weiteren Reaktoren am Berg-Atomkraftwerk Temelin still und leise gestoppt. „Die Regierung will gegenwärtig keine staatlichen Garantien für den Energiesektor gewähren“, begründet CEZ diesen Stopp. Tatsächlich aber geht das Unternehmen augenscheinlich so vor: Wird die Neuinvestition hauptsächlich vom Staat bezahlt, und damit von den Menschen steuerfinanziert, dann wird gebaut. Sonst nicht.
Ein paar Hundert Kilometer nordöstlich zerbombt bekanntlich seit zwei Jahren Putins Armee den Nachbarstaat Ukraine. Dadurch sind auch die dortigen Atommeiler gefährdet. Denn im Kriegsfall können auch AKW leicht zum Angriffsziel werden. Und dann?
Selbst wirtschaftsfreundliche Zeitungen rücken vom Atom ab
Inzwischen nennt übrigens sogar die einst atomfreundliche Wirtschaftszeitung „Capital“ die Märchen und Phantasien von Politiker:innen zur Atomenergie „Unsinn“. Wenn es nur das wäre: Atomkraft ist eine Gefahr für Mensch, Tier, Natur. So ist das bis heute unbewohnbare Umfeld von Tschernobyl auch 38 Jahre nach dem menschgemachten GAU des dortigen Reaktors Nr. 4 ein mahnendes „Denkmal“.
Bleiben noch die sagenumwobenen Mini- oder „Vierte-Generations-„Reaktoren. Dafür fließen seit Jahrzehnten Forschungsgelder an die Atomkonzerne. Doch gebaut werden sie kaum. Ob man vielleicht begriffen hat, dass auch eine geringere Strahlungsmenge in einem 300-Megawatt-Block, auch SMR (Small Modular Reactor) genauso sicher sein müsste wie ein 1.200-MW-Reaktor? Dass also die Hauptinvestition in die Sicherheit bei Klein und Groß ähnlich viel kosten würde? Markus Söder (CSU) oder Jens Spahn (CDU) jedenfalls finden die Dinger offenbar süß.
Und wenn sie nicht gestorben sind: Auch wenn Markus Söder sein bayerisch-deutsches Atommärchen wieder und immer wieder erzählt, es wird hoffentlich nie wahr werden. Dieses Pferd ist aus meiner Sicht bereits totgeritten. Denn nicht nur hier, sondern fast auf der ganzen Welt werden Atommeiler abgeschaltet. Denn bei einem Durchschnittsalter von fast 35 Jahren sind die meisten bald nur noch potenzielle Bomben. Lediglich in despotischen Nationen wie China, Russland, Belarus laufen sie wohl ohne große Bedenken weiter. Oder in Atomwaffen-Staaten wie USA oder Frankreich. Bei Neubauten wiederum explodieren überall die Kosten, ob in Finnland, Tschechien, Großbritannien – und womöglich irgendwann auch die Reaktoren selbst. So wie in Harrisburg, Tschernobyl, Fukushima. Bitte glauben Sie also nicht nur Märchenerzählern wie Markus Söder. Denn Atomkraft hat Sprengkraft und strahlt ewiglich.