
[Bild: Impulspapier]
Eine Analyse von Jörg Sutter
Die Verkehrswende bei uns dümpelt vor sich hin. Die USA kündigen indes hohe Strafzölle von über 100 % auf den Import von chinesischen Elektroautos an, was dazu führen könnte, dass noch mehr (vermeintlich günstige) Autos dann zu uns auf den europäischen Markt kommen. Der deutsche Hersteller Mercedes meldet am gleichen Tag, die Entwicklung einer neuer Oberklasse-E-Plattform aus Kostengründen zu stoppen. Doch unabhängig von diesen Entwicklungen kann die Verkehrswende bei uns auch noch unter einem ganz anderen Aspekt angesehen und umgesetzt werden: Es geht dabei nicht um Elektromobilität oder E-Fuels, sondern schlicht um die Vermeidung und Verlagerung von Verkehr.
Basierend auf einer Dissertation von Marlin Arnz hat das Reiner Lemoine-Institut aus Berlin nun ein Impulspapier veröffentlicht, das auf die ungenutzten Potentiale hinweist. Die Reiner Lemoine Stiftung hat seit ihrer Gründung 2006 rund 100 Promovierende im Bereich der Erneuerbaren Energien gefördert. Marlin Arnz wurde ebenfalls gefördert und hat 2020 den Clean Mobility Award des Verbands der Bahnindustrie (VDB) erhalten.
Arnz definiert zu Beginn erst einmal die Begriffe genau: Die Verkehrswende teilt er auf in die Bereiche „Energiewende im Verkehr“ mit Änderungen der Antriebstechnik und der Umstellung der Treibstoffe und in die Mobilitätswende, die Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung zu Ziel hat. Und: Während die ideale Verkehrswende diese vier Bereiche gleichwertig betrachten sollte, läuft es im Moment bei uns falsch: Antriebs- und Treibstoffwende werden überbetont, Verkehrsvermeidung und -verlagerung fallen unter den Tisch.
Das Impulspapier sieht das als strategische Aufgabe, die nicht nur technische, sondern auch sozialpolitische Herausforderungen enthält. Hohe Mobilitätskosten sind gerade für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen ein großes Problem. Das Zauberwort heißt „Suffizienz“: „So viel Verkehr wie nötig, aber für niemanden zu wenig Mobilität“.
Die Verkehrsentscheidung ist eine Individualentscheidung, die sich auf drei Fragen bezieht:
a) Wie viele Wege lege ich zurück
b) welche Distanz lege ich zurück?
c) welche Verkehrsmittel wähle ich dafür?
Diese Fragen werden täglich millionenfach beantwortet und damit das Verkehrsmittel und erst indirekt damit die Antriebsart etc. festgelegt. Eine konsequente Verkehrsvermeidung könnte die Hälfte des heutigen Verkehrs – und vor allem den Anteil der Langstrecke – reduzieren, so Arnz in seinem Impulspapier. Eine Vielzahl von antreibenden Effekten können hier helfen, im besonderen
a) eine verdichtete Gebäude-Infrastruktur
b) der Trend von Besitz zu Nutzung (mit Carsharing, etc.)
c) attraktiver öffentlicher Verkehr und Fahrrad-Infrastruktur
Das Papier analysiert auch, dass eine Verkehrswende zudem eine Verteilungsfrage ist, und stellt die Kosten einzelner Maßnahmen einander gegenüber: Weil eine reine Treibstoffwende hin zu Elektromobilität nur geringe öffentliche Investitionen benötigt (Ladeinfrastruktur), die Fahrzeuganschaffungen aber privat erfolgen, ist das ein recht günstiger Weg für die öffentliche Hand. Eine strukturelle Änderung der Verkehrsinfrastruktur und ein Ausbau des öffentlichen Verkehrsangebotes belastet dagegen die öffentlichen Kassen.
Neben den Kosten muss aber auch ein weiterer Vorteil einer umfassenden Verkehrswende beachtet werden: Die bessere Lebensqualität durch weniger Fahrzeuge, weniger Lärm und Luftverschmutzung sowie bessere Gesundheit, wenn viele Erledigungen auch zu Fuß oder mit dem Rad gemacht werden können.
Fazit:
Das Papier ist ein Plädoyer für eine echte Verkehrswende im dargestellten Sinne, die aber – das räumt der Autor auch ein – großer Anstrengungen zur Umsetzung bedarf, und nicht „von alleine“ in die Umsetzung kommt. „Die Mobilitätswende muss die Menschen und ihr Glück wieder in den Fokus der Verkehrspolitik rücken“, so Arnz.