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Götz Warnke

Gezeitenmühlen an der Algarve

Ex-Gezeitenmühle mit trockenem Bassin. Rechts die Autobahn, im Hintergrund der Rio Arade [Foto: Götz Warnke]

Ein Technik-Reiseführer von Götz Warnke

In den frühen Morgenstunden des 28. Februars 1969 wurden die Küstenregionen Marokkos und Portugals von einem gewaltigen Seebeben (Stärke 7,8) erschüttert, das sein Epizentrum an der Azoren-St.Vincent-Bruchzone hatte. Zwar wurde von einem Tsunami nichts vermeldet, aber Auswirkungen des Bebens reichten weit ins Land hinein; selbst in der 260 km vom Epizentrum entfernten und im Binnenland liegenden portugiesischen Stadt Loule wurde die historische Kirche Igreja Matriz de São Clemente schwer beschädigt (Memoraial an der Kirche). Das Erdbeben forderte „nur“ 13 Todesopfer, stand daher stets im Schatten der großen Katastrophe von 1755 , und blieb so kaum im öffentlichen Bewusstsein. Allerdings hatte es schwere Auswirkungen auf die Erneuerbaren Energien in Portugal, und zwar auf eine Energieform, die auch heute kaum im fachlichen Focus steht: die Gezeitenkraft. Denn es zerstörte einen Großteil der an der Algarve noch verbliebenen Gezeitenmühlen, und tilgte sie damit so vollständig aus der Geschichte, dass sie sich selbst bei auf das Thema spezialisierten Institutionen und Internetseiten zu einem Großteil nicht wiederfinden.

Dabei waren diese, den Wechsel von Ebbe und Flut nutzenden, dezentralen Energiewandler weit verbreitet. An allen europäische Atlantikküsten und den hier hinein mündenden, von der Tide beeinflussten Flüssen standen welche – auch in Deutschland. Weitere standen an den Küsten Kanadas, der USA und Australiens – überall dort, wo es eine deutlich spürbare Tide gab. Alter und Herkunft dieser Technik sind umstritten; nicht umstritten ist, dass in Irland bereits im 7. Jahrhundert verschiedene Gezeitenmühlen standen. Diese Mühlen wurden zum Kornmahlen, aber auch als Hammerwerke, Säge-, Schleif- und Häckselmaschinen eingesetzt.

Die Technik der Gezeitenmühlen war überall prinzipiell ähnlich: im Tidenbereich wurde ein Teil des bei Flut überschwemmten Geländes durch einen Damm abgetrennt. Das entstehende Bassin/Staubecken (portugiesisch: Caldeira) hatte wasserseits zwei oder mehrere Durchlässe: über einen oder zwei strömte das Wasser bei Flut hinein, wobei sich diese bei Ebbe durch den Wasserdruck meist selbsttätig schlossen. Der Auslass hingegen, der vom „Müller“ bei einsetzender Ebbe persönlich geöffnet wurde, leitete das Wasser über eine Wasserkraftmaschine. Je nach Größe des Tidenunterschieds kamen dabei unterschiedliche Techniken zum Einsatz, die man auch sonst bei Wassermühlen findet: meist ober- und unterschlächtige Wasserräder mit horizontaler Achse, aber auch Turbinen mit vertikaler Achse wie Löffelräder (port.: Rodizios) oder Reaktionsräder (port.: Rodetes) ähnlich der späteren Francis-Turbine, bei denen die Räder am unteren Ende eines Schachts angebracht waren und das Wasser mit dem Druck von oben durch die Schaufeln im Inneren des Radkranzes strömte und dieses so in Bewegung setzte. Der Lüneburger Wissenschaftler Prof. Dr.-Ing. Hartmut Wittenberg hat die Leistungen der alten Gezeitenmühlen an einzelnen Beispielen, abhängig z.B. vom Wasserdurchlass und der Fallhöhe, berechnet: dabei ergibt sich in den 2 x 4 täglichen Arbeitsstunden der Gezeitenmühle bei einer Rodizio/ einem Löffelrad 9 kWh, bei einer Rodete/Flügelrad mehr als das Doppelte.

Welche dieser Gezeitenmühlen (port.: Moinhos de Maré) an der Algarve sind heute noch zu besichtigen oder zumindest sichtbar. Dazu hier ein kleiner Reiseführer von Ost nach West (in Klammern die Geopositionen → Google):

Castro Marim
Wer diese Gezeitenmühle besuchen will, sollte ein Auto dabei haben. Denn anders als man vermuten könnte, liegt sie nicht in der Nähe des erwähnten, hübschen mittelalterlichen Städtchens Castro Marim (hier gab es im Mittelalter auch eine), sondern im Gemeindebezirk rund 20 km nördlich bei Odeleite ( 37°20’47.5″N 7°28’07.9″W ) . Zwar gibt es auch hier einen Tideneinfluss über den portugiesisch-spanischen Grenzfluss Río Guadiana, aber die Mühle, die an bestimmten Tagen besichtigt werden kann, dürfte ihre Hauptenergie aus dem Fluss/Ribeira de Odeleite bezogen haben. Die Straße direkt zur Mühle ist schmal und führt am Flussabhang entlang. Daher sollte man unbedingt den Parkplatz 250 m zuvor nutzen.

Tavira
Die Moinho de Maré do Almargem ( 37°07’45.8″N 7°36’51.4″W ) ist nur noch als Ruine vorhanden. Der Weg dahin führt vorbei an Salinen, die in der ehemaligen „Caldeira“ der Mühle angelegt wurden.

Fuseta
Am nördlichen Ende des Kanals/Hafens von Fuseta, landeinwärts von der Fischereigenossenschaft, liegt eine ehemalige Gezeitenmühle ( 37°03’31.4″N 7°44’53.7″W ), die heute als Hotel und Tapas-Bar genutzt wird. Ehemals gab es mehrere Gezeitenmühlen in dem Fischerort.

Quelfes
Weiter westlich von Fuseta, im Gemeindegebiet von Quelfes, steht die wohl bekannteste Gezeitenmühle ( 37°01’49.4″N 7°48’54.9″W ) der Algarve, deren Abbildung sich in unzähligen Publikationen wiederfindet. Häufig wird ihr Standort auch mit Olhão bezeichnet, der nächsten größeren Stadt, in der die Ausflugsboote ablegen, von denen man die Mühle von der Wasserseite aus fotografieren kann. Besser ist es jedoch, sich ihr von der Landseite zu nähern. Denn sie liegt im Naturpark des Umweltzentrums der Ria Formosa, dem Centro de Educação Ambiental de Marim (CEAM), ist vom Parkplatz des Zentrums gut zu Fuß zu erreichen und sogar von Innen zu besichtigen. Im Bildungszentrum selbst wird auch ein Buch von 1992 – allerdings auf portugiesisch – über die Gezeitenmühlen der Ria Formosa angeboten, von denen es früher eine Vielzahl gab.

Rio Arade
Wie beim o.a. Grenzfluss Río Guadiana im Osten so hat auch der Rio Arade im Westen ein geringes Gefälle, so dass die Tide bis weit ins Land hinein reicht. Wenn man vom Seehafen Portimao den Fluss hinauf fährt, so trifft man auf der östlichen Seite die ersten vier noch sichtbaren Exemplare zwischen den den Fluss überspannenden Brücken der Nationalstraße N 125 und der Autobahn A 22 weiter nördlich. Die erste Mühle ( 37°09’06.4″N 8°30’03.0″W ) gleich hinter der N 125 ist heute als privates Wohnhaus gut erhalten; man kann sich ihr von Land oder vom Wasser her nähern, aber das Grundstück nicht betreten. Die zweite Gezeitenmühle ( 37°09’17.3″N 8°30’06.2″W ) hatte in etwa die gleiche Größe wie die erste, ist aber heute wegen des Bebens von 1969 eine Ruine. Wegen zerfallender Dämme, eingebrochener Brücken und der mittlerweile verschlammten Caldeira kommt man von Land aus nicht einmal in ihre Nähe; für Drohnen gilt hier die Flugverbotszone des Flughafens Portimao. Man kann sich der Mühle allenfalls über das Wasser mit einem Paddelboot nähern; vom Betreten der Ruine ist abzuraten. Gezeitenmühle Nr. 3 ( 37°09’25.1″N 8°30’09.9″W ) muss ehemals ein größerer Komplex gewesen sein, ist aber heute eine Ruine, von Land nicht zugänglich, und hinsichtlich des Betretens s.o. Nr. 4 ( 37°09’38.3″N 8°30’07.4″W ) liegt fast direkt unter der Brücke der A 22, ist heute ein privates Wohnhaus, und daher nicht zugänglich.

Nördlich der A 22, an einer sich nach Osten öffnenden Bucht des Rio Arade, liegt der öffentliche Parque Municipal do Sítio das Fontes, ein großes Gelände für naturnahe Freizeit. Nahe beim Zentrum des Parks steht hier eine gut renovierte Gezeitenmühle ( 37°09’43.4″N 8°29’10.8″W ), die besichtigt werden kann. Sie speiste ihr Bassin teilweise aus einem kleinen Bach/Fluss, der allerdings in den zunehmend heißen Sommern meist ausgetrocknet ist. Etwas weiter nördlich, am Hauptstrom des Rio Arade, sind die fast überwucherten Reste einer weiteren Gezeitenmühle ( 37°09’59.7″N 8°29’22.8″W ) zu entdecken. Ihr ehemaliges Wasserreservoir ist heute ein Vogelschutzgebiet.

In Portimao zurück, trifft man an einem westlichen Seitenarm des Rio Arade auf eine weitere Gezeitenmühle ( 37°09’52.0″N 8°31’25.6″W ), die Opfer des Erdbebens wurde und nun eine Ruine ist. Man kann sie von oben von der am Hang entlang führenden Straße Estr. do Moinho da Maré betrachten, aber nicht betreten. Auch sie gehört zu den wenigen, heute noch sichtbaren Exemplaren der einstmals über 20 Gezeitenmühlen am Rio Arade zwischen Portimao und Silves. Wer den Mühlen heute ganz nahe kommen will, kann das mit einem kleinen Boot und Paddel/Ruder tun. Wer es es weniger anstrengend haben möchte, nehme einen solchen Solarkatamaran: der fährt nicht so schnell, so dass man die Gezeitenmühlen in Ruhe betrachten und fotografieren kann; und durch den leisen Motor wird die auch interessante Tierwelt (Flamingos, Störche etc.) nicht vertrieben.

Soweit der Reiseführer. Sind also die Gezeitenmühlen der Algarve nur noch ein historisches Relikt, eine interessante Kuriosität, die keine Bedeutung für das heutige System der Erneuerbaren Energien mehr hat? Das muss nicht so sein! Entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, könnte man viele Gezeitenkraft-Anlagen reaktivieren. Infrastrukturen wie Bassins, Dämme und Durchlässe sind ja weiterhin vorhanden; sie müssten nur renoviert werden. Neue Energietechnik wie bidirektionale Rohrturbinen oder Straflo-Turbinen mit verstellbaren Schaufeln und Getrieben könnten über Generatoren zuverlässig Strom erzeugen und würden die Arbeitszeiten der Gezeitenkraft erheblich ausdehnen. Dass die Salazar-Diktatur ab 1969 den Wiederaufbau der dezentralen Gezeitenkraft nicht unterstützte, und statt dessen zentralistisch auf Großkraftwerke setzte, ist ein Weg, den man heute ja nicht bis in alle Ewigkeit fortführen muss.

* Santos, Luis Filipe Rosa: Os moinhos de maré da Ria Formosa. Hrsg. vom Parque Natural da Ria Formosa 1992, (ohne ISBN) 151 Seiten, ca. € 15,–