
Eine kritischer Blick auf ein beliebtes Narrativ von Matthias Hüttmann
Da bestehen landauf und landab kaum Zweifel: die Bürokratie ist ein Monster, das uns alle auffrisst. Auch wenn das nichts Neues ist – so sehr im Fokus war das beliebte Narrativ schon lange nicht mehr. Und das ist auch kein Zufall, ist der Bürokratieabbau gerade wieder en vogue, weil er eben auch eine der ambitionierten Ziele der Ampel war. Eine Aufgabe, die so unscharf ist, dass man alles Mögliche darunter verstehen oder auch dahinter verstecken kann. Das ist nicht ungefährlich, einiges ist bereits in der Umsetzung.
Und in den USA, die derzeit einen organisierten Staatsstreich erleben, soll von einem sehr reichen, wenn nicht gar dem aktuell reichsten Menschen auf der Erde, der Staatsapparat radikal verkleinert und effizienter gestaltet werden, so die offizielle Formulierung. Dabei sollen ganze Behörden geschlossen und zehntausende Bedienstete entlassen werden. Unter dem Deckmantel der Effizienzsteigerung wird jedoch massiv umgebaut, werden hochsensible Institutionen wie auch wichtige internationale Einrichtungen verteufelt und zerschlagen. So, das ist die frohe Botschaft, sollen verschwenderische Staatsausgaben abgebaut werden. Dass das Ganze gar nicht groß verschleiert wird, zeigt jedoch deutlich, wie weit die Demontage der Demokratie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten schon fortgeschritten ist. Es ist auch müßig darüber zu sinnieren, ob nun Musk hier die Marionette von Trump, oder ob Trump nur die Handpuppe von Musk ist, oder ob das beide gar nicht so genau wissen. Egal, darum soll es in diesem Artikel auch nicht gehen. Er handelt auch nicht von den eskalierenden Ereignissen in den USA, sondern vor allem von dem Narrativ selbst und wie es hierzulande verwendet wird. Vielleicht sind die Vereinigten Staaten uns ja nur wieder mal einen Schritt voraus.
Um zu verstehen, weshalb Bürokratieabbau so positiv besetzt ist, ein kurzer Abriss: Das Narrativ der monströsen Bürokratie ist sehr alt – alle die Kafka gelesen haben, wissen, was gemeint ist. Der legendäre Passierschein A38 aus „Asterix erobert Rom“ ist ebenso Kulturgut und Versinnbildlichung einer menschenfeindlichen Kultur. Wir alle, die unsere Steuererklärung selbst erstellen, können ein Lied davon singen. Und eine andere Geschichte aus der jüngeren Vergangenheit ist auch sehr passend. So arbeitete Edmund – die Klarsichthülle – Stoiber einst acht Jahre lang als Anti-Bürokratie-Beauftragter für die EU. Was er dort letztendlich erreicht hat, ist weniger überliefert. Das Ziel seiner Arbeit war jedoch vor allem die Entlastung der Wirtschaft. So rechnete er mit rund 40 Milliarden Euro, die Unternehmen jährlich einsparen könnten, würden „Verwaltungslasten“ in der EU gemäß seinen Vorschlägen umgesetzt werden. Ob er, der akribische und bei seinen Mitarbeitern wegen seiner Pedanterie nicht unbedingt beliebte Fast-Kanzler („Ich werde noch kein Glas Champagner öffnen“), damit erfolgreich war, lässt sich wohl nicht mehr so ganz klären. Denn eine unbequeme Wahrheit wird gerne verschwiegen: Vorschläge zum Bürokratieabbau gibt es schon lange, nur erreicht hat man einen solchen offensichtlich bislang nie. Denn gefühlt wird eine abgeschaffte Regelung durch mindestens eine neue ersetzt, oder es werden Verordnungen meist aufgebläht statt vereinfacht.
Das Brüssel uns alle zu Tode regelt, diesen Mythos konnte auch Stoiber nicht eliminieren. Der vielbeschworene regulatorische Wahn der „Brüsseler Bürokraten“, der alles, selbst die Form von Gurken per Verordnung festlegt, ist aber auch eines der Ammenmärchen, die man sich in der europäischen Provinz immer wieder gerne erzählt. Diese bewussten Übertreibungen waren letztendlich auch der Nährboden, auf dem der Brexit gedeihen konnte. Und sie tragen auch dazu bei, dass überall die Rechten und Ewiggestrigen erstarken. „Jedem das seine und mir das allermeiste“ ist die Devise. Die Korruption im eigenen Land ist immer noch das kleinere Übel, dachten und denken wohl noch immer viel zu viele. Geld kassieren und sich nicht an Vereinbarungen zu halten, nach wie vor ein beliebter Sport innerhalb der Europäischen „Gemeinschaft“. Auch in Deutschland war man sich meist einig, dass wir die Melkkuh der EU sind; dass wir hingegen extrem von dem gemeinsamen Binnenmarkt profitiert haben – geschenkt! Jammern über China, dass sich an Regeln nicht hält, ja das ist auch eine beliebte Masche.
Wenn dann aber ein Lieferkettengesetz daherkommt, dann ist das gleich mal ein bürokratisches Monster. Eine kleine Tendenz ist, gerade in Deutschland, auszumachen: Statt Bürokratie sollen Umweltauflagen, wie auch der Natur- und Klimaschutz abgewickelt werden. Was konkret in der EU angedacht ist: Die GLÖZ-Standards (Guter landwirtschaftlicher und ökologischer Zustand) und die Grundanforderungen der Betriebsführung (GAB, darunter fällt beispielsweise der Umwelt-, Natur- und Tierschutz) müssen nicht mehr in der aktuellen Form erbracht werden, um Zahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) erhalten zu können.
Notwendigkeit der Bürokratie
Warum Bürokratie eigentlich eine Errungenschaft ist und welche Vorteile sie bringt, wird in dieser aufgeregten Diskussion schnell vergessen. Das macht es dann auch leicht, Unliebsames abzuschaffen und interessengelenkte Eingriffe vorzunehmen. Denn leicht wird übersehen, wie Gesellschaften und Institutionen funktionieren sollten, wenn Gesetze zwar beschlossen, aber nie überwacht werden würden, wenn vieles verlangt und definiert wird, aber keine Kontrolle oder Dokumentation stattfinden würde. Die Frage, wie Betrug, Korruption, Schildbürgertum und ähnliches überhaupt erkannt werden könnte, gäbe es nur noch die „schlanke“ Bürokratie, wird selten öffentlich diskutiert. Denn Vieles läuft auch richtig und gut. Eine funktionierende Bürokratie ist das Rückgrat einer Demokratie. Zitat aus einem Beitrag des Deutschlandfunks Ende 2024 „Unter Bürokratie versteht man das Ausführen von Gesetzen, den Verwaltungsakt, der abstrakte Regeln und Vorschriften für Bürger und Unternehmen spürbar werden lässt. Die Bürokratie muss sich dabei genau an die Gesetze halten und wird durch die Justiz kontrolliert. In den Verwaltungen soll jeder Bürger gleichbehandelt werden: Will man einen neuen Reisepass beantragen, gibt es ein Verfahren für alle, niemand wird bevorzugt. Gesetze – zum Beispiel Vorschriften zum Klimaschutz oder zur Digitalisierung – sollen so wirken, dass jeder Bürger nur so weit wie nötig eingeschränkt wird, um darüber ein gemeinsames Ziel zu erreichen: zum Beispiel weniger CO2-Emissionen. Die Verwaltung setzt diese Gesetze um und sorgt dafür, dass sie eingehalten und beachtet werden, beim Neubau von Gebäuden zum Beispiel. Das schränkt den Einzelnen ein, dient aber dem Gemeinwohl.“
In einem Waschgang
Wenn nun die Tagesschau einen Beitrag aus den USA über die wenig transparente „Behörde“ DOGE, die sich der (hier könnte man jetzt jede Menge Adjektive einfügen) Milliardär Musk, dank seiner finanzkräftigen Unterstützung im Wahlkampf verdient hat, mit dem „Bürokratieabbau in den USA“ illustriert (siehe Bild oben), dann ist das leider eine Schönfärberei eines Vorgangs, der genau das nicht ist, nämlich ein Bürokratieabbau, sondern vielmehr ein Staatsumbau, um ein weichgespültes Wort zu verwenden. Böse Zungen haben auf der Social-Media-Plattform Bluesky, so was wie Twitter vor einigen Jahren, schon passend dazu andere Vorschläge gemacht. Man könne in dem Zuge auch gleich mal andere Begriffe umtaufen: statt Brandstiftung „thermische Renovierung“, statt Plünderung „alternatives Einkaufskonzept“, statt Gefängnisstrafe „betreutes Wohnen“, statt Zensur „redaktionelle Optimierung“ oder statt Raubüberfall „ungeplante Vermögensumverteilung“. Nun, das ist jetzt schon sehr sarkastisch, aber andererseits auch die eigentliche Botschaft: Wir müssen alle sehr darauf achten, was uns unter einem – durchaus notwendigen – Bürokratieabbau so alles untergeschoben werden soll.
- Das in der Wirtschaft unbeliebte Lieferkettensorgfaltsgesetz soll abgeschafft werden. Es nimmt vor allem größere Unternehmen in die Verantwortung, um menschen- sowie umweltrechtliche Standards entlang globaler Lieferketten zu gewährleisten. Denn das Gesetz schafft eigentlich keine neuen Belastungen, sondern soll lediglich überprüfen, ob die bisher geltenden Standards eingehalten werden. Das sieht man in Brüssel allerdings anders. Im Übrigen sollte man hellhörig werden, wenn es zu einer in gewisser Weise vergleichenden Abwägung von Menschenrechten und Bürokratie kommt. So wird nämlich schon mal behauptet, dass gerade durch die Abschaffung eines „unnötiges Lieferkettengesetzes“ Menschenrechte geschützt werden würden.
- Ganz allgemein sollen Berichtspflichten, Anzeigepflichten, Meldepflichten reduziert und abgeschafft werden. Dadurch würden jedoch dem Betrug Tür und Tor geöffnet. Dass hier und da etwas reduziert werden kann und sollte, ist unumstritten. Aber dass vor allem die Digitalisierung dieser Pflichten viel wichtiger wäre, fällt dabei leider oftmals hinten runter. Nicht sinnvoll wäre es daher, z.B. die Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) zu kürzen, da dadurch wichtige Standards gefährdet wären, und das letztlich der europäischen Industrie im internationalen Wettbewerb schaden könnte.
- Mit dem Schleifen der sogenannten Farm-to-Fork-Strategie rückt die EU ab von der eigentlich geplanten Transformation des europäischen Agrar- und Ernährungssektors und verschiebt die angestrebte nachhaltige Zukunft in weite Ferne. Konkrete Reduktionsziele für Pestizide (minus 50 Prozent bis 2030) und Düngung (minus 20 Prozent), sowie ein Flächenziel von 25 Prozent für Ökolandbau werden wieder hinterfragt. Das zeigt, wie vielen dieser Vorhaben den Trend zum Rollback innewohnt – Bürokratieabbau als Mittel mit Zweck, sozusagen.
Positive Aspekte
Anstatt immer mehr Bürokratie aufzubauen – ein schlechtes Beispiel ist ein immer mehr aufgeblähtes Erneuerbare Energien Gesetz EEG oder die Tendenz, alles politische Handeln über Gesetze bzw. präsidiale Dekrete (USA) zu regeln – sollte vielmehr eine der eigentlichen Aufgaben von Bürokratie darin bestehen, zu überprüfen, ob der ursprüngliche Zweck einer Verpflichtung noch Bestand hat. Ein gutes Beispiel in dem Zusammenhang sind beispielsweise die sogenannten Praxischecks, mit denen im BMWK unnötige Bürokratie beseitigt werden soll. So wurde laut Ministerium etwa im Bereich Photovoltaik einiges „entrümpelt“. Dort hat man sich laut Mitteilung auch alle Informations- und Berichtspflichten vorgenommen, für die das BMWK zuständig ist.
Es gibt viel zu tun. Oder anders: Vertrauen ist gut, aber ohne Kontrolle sicherlich zu wenig.